Ruth Gschwendtner-Wölfle
Visuelle Alphabetisierung betrifft uns alle:
Sehen heißt glauben

Einführung

Nichts ist sicherer als das, was ich mit eigenen Augen gesehen habe. So zumindest glauben viele. Der Philosoph Jean Jacques Rousseau vertrat die Meinung, alles könnte auch eine Täuschung der Sinne sein. Meister fernöstlicher Schulen sagen: Nur ein ruhiger und reiner Geist ist klar und erkennend. Da dieser Geist aber im Normalfall getrübt und aufgewühlt ist durch starke Wünsche, heftige Abneigungen oder Projektionen, sind auch die Seh­ergebnisse dementsprechend unklar.

Lust am Sehen-Können – Basisqualifikation oder Luxus?

Um qualifiziertes Sehen als Kulturtechnik zu erlernen, braucht es eine Prise kindliche Neugier, eine gute Portion Problembewusstsein und ebenso viel Geduld und Aufmerksamkeit fürs Bilder-
lesen-Lernen, vergleichbar dem Erlernen einer verbalen Sprache.

Kapitel im Lernprozess sind: die Aneignung von Wissen über Bildarten und visuelle Codes (zu finden im Modul von Anna Rüegg), und die Fähigkeit und Ruhe des Betrachtens selbst (bei Georg Vith). Visuelle Leitsysteme sind im eigenen Kulturkreis leichter zu erlernen als in einem fremden (mehr darüber bei Klaus Lürzer). Wie sehr Bilder zu einem Identitätsgefühl beitragen, bearbeitet Margareta Gynning, die dies mit Beispielen aus der Malerei belegt. Wie sehr fremd bestimmte Bilder, etwa aus der Werbung, bewusst oder unbewusst aufgenommen und als eigene internalisiert werden, das zeigt Eva Saro, deren Modul Klischees und Stereotypen zum Männer- bzw. Frauenbild transparent macht. All dies gehört zum vielfarbigen Lernfeld visueller Sprachen.
Das Lesen von Fotografie (historische und zeitgenössische) – beleuchtet Werner Matt. Den Film als Beobachtungsinstrument verwendet Frode Stor°as in seinem Modul. Beide Medien geben sich oft den Anschein relativer Objektivität – sie gehören jedoch zu den komplexeren visuellen Sprachsystemen und ermöglichen subtilste Manipulation – bis hin zur Indoktrination von Massen. Wie viel Zündstoff der – oft ahnungslose, oft wahllose – aber auch manipulative Gebrauch von Bildern in unserer multiethnischen Gesellschaft birgt, wird in den Medien sichtbar. Wenn Traditionen und Toleranzgrenzen überschritten, religiöse Tabus gebrochen, Werte »vergesellschaftet« und Gefühle verletzt werden, kann es bis zu politischen Komplikationen führen (in Edith Maiers Modul mehr dazu über den Umgang mit Bildern aus dem Islam, sowie Ruth Gschwendtner-Wölfle über den Umgang mit Bildern im Buddhismus). Ein eurozentrisches Weltbild macht gelegentlich blind für den »Blick des Fremden«. Diesen erweiterten Blick zu entwickeln, ist ein lustvolles, spannendes und »weites Feld«.

Ein Handbuch zum Trainingskurs

Was gebraucht wird, ist: ein fundiertes Wissen über Bilder, die Fähigkeit, viele Bilder schnell zu erfassen und die Fähigkeit, visuelle Wahrnehmung auch bewusst zu verlangsamen, d. h. sich in Bilder vertiefen zu können. Das Handbuch zum Trainingskurs »Sehen ist lernbar« wurde nach dem gleichnamigen Grundlagenwerk mit der Absicht entwickelt, aus dessen umfangreichem Bild-, Text- und Filmmaterial anwenderfreundliche, komprimierte Module für den Vermittlungsalltag zu schaffen.

Es richtet sich an Menschen, die mit Bildern im weitesten Sinne selbst beruflich umgehen (d. h. GrafikerInnen, Kunster­zieherInnen, ArchitektInnen, …), die Bilder vermitteln (in Museen, in Bildungseinrichtungen, …) und die Bilder als methodisch-
didaktisches Medium verwenden (mit MigrantInnen, beim Fremdspracherwerb, in der Kulturarbeit, mit Seniorengruppen, …). Natürlich aber auch an alle, die sich selbst fortbilden möchten. Obwohl beide Publikationen aufeinander Bezug nehmen, können das Grundlagenwerk »Sehen ist lernbar« und das »Sehen ist lernbar – Handbuch« unabhängig voneinander verwendet werden. Als Ergänzung für beide Medien gibt es web basiertes Trainingsmaterial, das unter www.sehen-ist-lernbar.eu abrufbar ist. Die Buchmedien liegen in englischer und deutscher Sprache vor. Im Webmaterial sind die Basistexte zusätzlich in Französisch, Polnisch, Portugiesisch, Finnisch, Schwedisch und Norwegisch verfügbar.

Alle drei Medien von »Sehen ist lernbar« bieten verschiedene Zugänge, Übungen und Methoden zum großen Komplex Sehen an. Im Buch haben wir bewusst auf Meinungsvielfalt gesetzt, sodass »Bild-SemantikerInnen« und »spontane Bilder-LeserInnen«, freie »AssoziationsakrobatInnen« wie auch »Decodierspezialist-Innen« gleichermaßen auf ihre Rechnung kommen.

Was letztlich zählt, ist nicht die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, sondern die persönliche Entwicklung eines ausgeprägten Problembewusstseins für Bilder.

Der blinde Fleck im Bildungssystem

Um in unserer globalen Welt als mündige BilderleserInnen bestehen zu können, ist eine gezielte visuelle Alphabetisierung unverzichtbar. Eine systematische Ausbildung dazu fehlt jedoch weitgehend. Der Vermittlung dieser Bildlesekompetenz steht oft ein falsch verstandener Kunstbegriff im Wege (häufig in Bezug auf Kunstobjekte: etwa, dass nur Fachleute »etwas Gescheites zu Kunstwerken sagen könnten«), gepaart mit einer nahezu nicht relativierbaren Genie- und Begabungslehre (Beispiel bildnerisches Gestalten: dass nur zeichnen / malen könne, wer begabt sei). Dazu ist zu sagen: wer für den Hausgebrauch schreiben gelernt hat, kann auch für den Hausgebrauch zeichnen lernen – mit und ohne Begabung. Sehkompetenz – verstanden als Lesen-Können von Bildern, und Ausdruckskompetenz –
verstanden als »Protokollieren-Können« von Gesehenem, sind wesentliche Lernziele. Eingeschlossen ins Studium sind triviale Bildfelder ebenso wie Kunstsprachformen, innere wie äußere Bilder, weltliche wie religiöse, vertraute wie fremde Bilderwelten.

Egal, ob Schulsystem oder lebenslanges Lernen: Bildlesekompetenzen sollten zum Allgemeinwissen und zu den grundlegenden Fähigkeiten aller Weltbürgerinnen und Weltbürger des 21. Jahrhunderts gehören. Solange jedoch diese visuelle Alphabetisierung nicht im allgemeinen europäischen Bildungskanon existiert – sie fehlt (bis jetzt) in den Evaluationsfächern der PISA-Studien – und solange sie nicht Platz und Stellenwert als Sprachfach erhält, ist anzunehmen, dass sie immer noch in der Dekorationsschublade als Beweisstück für fehlendes Problembewusstsein und allgemeine Blindheit schlummert.

»Sehen,« so sagt der buddhistische Meister Gesche Rabten,
»ist eine geistige Fähigkeit, die trainierbar ist.« Packen wir’s also an!